(02.05.2011)
Interview mit Dietrich Delekat, Ärztlicher Leiter des Kinder- und Jugendgesundheitsdienstes Friedrichshain-Kreuzberg, zum aktuellen Spezialbericht "Sozialstruktur und Kindergesundheit", den die Senatsverwaltung für Gesundheit, Umwelt und Verbraucherschutz Ende März vorgelegt hat. Der Bericht basiert auf den Einschulungsuntersuchungen der Jahre 2007/2008.
BÄ: Der aktuelle Bericht der Senatsverwaltung zeigt erneut, dass die
Gesundheit von Kindern im Vorschulalter in Berlin in erheblichem Maße vom
sozialen Status der Eltern abhängt. Diese Erkenntnis ist nicht unbedingt neu.
Lassen sich aus Ihrer Sicht aus dem Bericht Veränderungen dieser Situation
ablesen - sowohl positiv als auch negativ?
Delekat: Obwohl mittlerweile seit gut zehn Jahren die Daten der
Einschulungsuntersuchung (ESU) in Berlin standardisiert erfasst werden,
beschränkt sich der Bericht auf eine weit gehend deskriptive Darstellung der
Verhältnisse 2007/2008. Wer die Vorberichte gelesen hat und etwas über
Kreuzberg, Neukölln oder Wedding weiß, für den wird dieser Bericht sehr wenig
Überraschungen bergen. Zudem fällt eine enorme Verwissenschaftlichung auf,
Methodenkritik und statistisch-mathematische Überlegungen und Darlegungen nehmen
breitesten Raum ein. Das lässt das Herz der Sozialwissenschafts-Gemeinde höher
schlagen, aber wird das wirklich eine messbare Bedeutung für die erschreckend
große Anzahl unserer konzentrationsgestörter und entwicklungsrückständiger
Kinder haben, deren Fähigkeiten für die einfachsten Anforderungen der
Grundschule nicht reichen? Die Antwort liegt vielleicht auch jenseits des
Variablensatzes der ESU, über den der Bericht nicht hinausgeht. Auf den
bisherigen Verlauf wird kaum eingegangen, aber der Vergleich der berlinweiten
Zahlen von 2005 und 2009 zeigt, dass sich die Fähigkeiten der Kinder aus den
Problemgruppen allenfalls marginal verbessert haben. Der Förderbedarf hat sich
jedoch praktisch durchgehend erhöht. In Friedrichshain-Kreuzberg ist der
Sonderpädagogische Förderbedarf zwischen 2005 und 2010 von 6,3 % auf 9,9 %
gestiegen. Weiterhin besteht ein riesiger Abstand zwischen den bildungsnahen und
den bildungsfernen Bevölkerungsgruppen, was in Friedrichshain-Kreuzberg weit
gehend gleichbedeutend mit den Kindern deutscher gegenüber türkisch-arabischer
Herkunft ist.
BÄ: In welchen Bereichen und in welchen Bezirken sehen Sie die größten
Defizite?
Delekat: Auch ganz ohne profunde Statistikkenntnisse weiß mittlerweile
jeder, dass das Elternhaus eine entscheidende Rolle spielt, und sogar die
finanziellen Verhältnisse demgegenüber deutlich zurücktreten. In noch erheblich
größeren Gebieten, als sie der Bericht benennt, fällt das Elternhaus als
fördernde und bildende Kraft völlig aus, wenn es nicht sogar gleich Werte
vermittelt, die denen unserer Gesellschaft diametral entgegen stehen. Immer mehr
müssen die staatlichen Institutionen - Kitas und Schulen - als Komplettersatz
für das Elternhaus herhalten. Wir sehen jedes Jahr mehrere Tausend Kinder, und
die konkrete Erfahrung der Unterschiedlichkeit des Eindrucks, den diese Kinder
im raschen Wechsel machen, vermittelt uns nicht die Überzeugung, dass so eine
befriedigende Kompensation möglich ist. Die Defizite folgen der
Bildungsstruktur, und sie beziehen sich auf die basalsten sprachlichen,
motorischen, kognitiven und Wahrnehmungs-Fähigkeiten der Kinder, und ganz
besonders auch auf die emotionalen und sozialen.
BÄ: Der Sozialstatus, der sich ja aus einigen Faktoren wie Einkommen,
Bildung und Sprachkenntnisse zusammensetzt, lässt sich nicht so ohne Weiteres
ändern. Was kann der öffentliche Kinder- und Jugendgesundheitsdienst denn tun,
um die Situation zu verbessern?
Delekat: Zumindest in den hoch belasteten Bezirken darf man sich über
die Tätigkeit des KJGD keine Illusionen machen: Er ist ein Notnagel und ein
Auffangnetz für einen nicht unbeträchtlichen Prozentsatz der Kinder, die bereits
vom Scheitern bedroht sind, bevor sie überhaupt eine Schultür erreichen. Im
Verein mit all den anderen Institutionen - Kitas, Schulen, Kinderärzte,
Kinderpsychiater, Jugendamt, Familiengerichte, Familienhelfer, Sozialarbeiter
usw. - versucht er, oft genug gegen den aktiven Widerstand der Eltern, den
Kindern wenigstens halbwegs eine Chance zu vermitteln. Das ist eine harte
Arbeit, und eine sinnvolle und segensreiche dazu. Aber mehr als das Schlimmste
zu verhüten, ist es in der Mehrzahl der Fälle nicht. Man beachte auch, dass der
KJGD so gut wie keine Finanzmittel und keinerlei Zugang zum kassenärztlichen
Verordnungssystem hat; er muss sich auf reine Empfehlungen beschränken,
gegenüber niedergelassenen Kinderärzten, die die Wörter "Ergotherapie",
"Logopädie", "Psychotherapie" und "Physiotherapie" schon nicht mehr hören
können, vom Wort "Budget" ganz zu schweigen.
BÄ: Ist durch die Einschnitte im Kinder- und Jugendgesundheitsdienst
in den vergangenen Jahren nicht am falschen Ende gespart worden?
Delekat: Der Gesetzgeber hat seinen Willen in Gesetze gegossen, die ja
auch vom Bericht zitiert werden: Der ÖGD soll möglichst nur nur noch dort selbst
Hand anlegen, wo es wirklich überhaupt niemand anderen mehr gibt ("subsidiär und
sozialkompensatorisch"), und ansonsten nur noch im hochmodernen Public
Health-Ansatz koordinierend die vielen anderen (drittfinanzierten) Akteure
vernetzen; ein Modell, das mit erfreulich wenig Personal auskommt. Ein
Widerspruch tut sich dann auf, wenn bei dringenden Handlungsnotwendigkeiten
regelmäßig auf die KJGD zurückgegriffen werden muss, man denke an den
Kinderschutz. Mindestens in den belasteten Bezirken sind die KJGD mit
Kinderschutz und ESU bereits am Rande ihrer Kapazität; die anderen Aufgaben -
Gesetz oder nicht - stehen auf dem Papier. Verdutzt nimmt man auch die
Ausführungen im Bericht auf S. 172f. über die Personalbemessung zur Kenntnis,
denn genau das dort vorgestellte Modell ist im Gesetzgebungsverfahren
gescheitert und gar nicht Realität. Es gibt in Berlin keinerlei verbindliche
Zumessung nach Bedarf, und auch keinerlei Ausgleich für die eklatant
unterschiedliche Sozialstruktur; auch die Kosten-Leistungsrechnung der Berlin
Verwaltung geht davon aus, dass die Betreuung eines bosnischen Flüchtlingskindes
in Kreuzberg nicht aufwändiger ist als die eines Akademikerkindes in Nikolassee.
Dass dies Folgen haben muss, liegt auf der Hand.
Das Interview führte Sascha Rudat.
Spezialbericht "Sozialstruktur und Kindergesundheit"
Datengrundlage des Berichts sind die Berliner Einschulungsuntersuchungen der
Jahre 2007 und 2008. Die Auswertungen beziehen sich auf insgesamt 52.699 Kinder
im Vorschulalter. Für die Beschreibung der Lebenslage wurden laut Angaben der
Senatsverwaltung folgende drei Dimensionen ausgewählt:
- Familienform: Die große Mehrheit der Kinder lebt mit beiden
Elternteilen (72 %), etwa ein Viertel der Kinder (28 %) mit einem
Elternteil zusammen. Nur sehr wenige Kinder (unter 1 %) wachsen in einer
anderen Konstellation, z. B. bei Großeltern oder in einem Heim, auf.
- Sozialstatus: Die Kinder und ihre Familien wurden in drei Gruppen - niedriger
(23 %), mittlerer (52 %) und hoher (25 %) - Sozialstatus eingeteilt. Zur
Ermittlung wurden Schulbildung, berufliche Ausbildung und Erwerbsstatus der
Eltern erfragt.
- Migrationshintergrund: Bei den Kindern mit Migrationshintergrund (33 %)
wurden drei Gruppen unterschieden: gute oder sehr gute Deutschkenntnisse von
Kind und Elternteil (16 %), unzureichende Deutschkenntnisse von Kind oder
Elternteil (9 %) und unzureichende Deutschkenntnisse von Kind und Elternteil (8
%). Es hat sich gezeigt, dass für die Lebenslage der Kinder die
Deutschkenntnisse wichtiger sind als der Migrationshintergrund.
|