(20.05.2010)
"Quo vadis - Notfallmedizin?" - Ein hochkarätiges Podium hat am 30. April in der Ärztekammer Berlin die Frage nach der Zukunft der Nofallmedizin gestellt.
Der Kammervorstand - namentlich Vorstandsmitglied Dr.
med. Werner Wyrwich - hatte die Veranstaltung ins Leben gerufen. Zahlreiche Notfall- und
Rettungsmediziner hatten den Weg in die Kammer gefunden, um gemeinsam mit den
Referenten zu diskutieren, wie eine hochqualitative Notfallmedizin
sichergestellt werden kann und vor allem, ob dafür ein eigener Facharzt
notwendig ist.
Nach der Veröffentlichung eines Konsensus-Papiers mehrerer Fachgesellschaften im
Februar flammte bundesweit heftige Diskussion auf. Viele "an der Basis"
arbeitenden Notfallmediziner stehen dem "Konsens" kritisch gegenüber, sie werfen
den Fachgesellschaften vor, den Blick für die Realität nicht mehr zu haben oder
protektionistisch zu agieren. "Den Stachel ins Fleisch drücken" wolle die
Berliner Kammer mit dieser Veranstaltung, sagte Unfallchirurg Werner Wyrwich
bildhaft in seiner Einleitung. Dass der Stachel piekte, zeigten die ambitioniert
vorgebrachten Referate der Podiumsteilnehmer, die aus ganz Deutschland und auch
aus Großbritannien angereist waren. Professor Dr. med. Michael-J. Polonius,
Präsident des Berufsverbandes der Deutschen Chirurgen, erteilte dem eigenen
Facharzt gleich zu Beginn eine Absage. Angelsächsische Länder, in denen der
Facharzt teilweise seit Jahrzehnten etabliert ist, taugten seiner Ansicht nach
nur bedingt als Vorbild. "Bei uns gilt Facharztstandard", betonte Polonius.
Dieser sei bei einem eigenen Facharzt nicht zu halten, zeige er sich überzeugt.
Die Notfallmedizin sei integraler Bestandteil anderer Facharztdisziplinen.
Probleme in Notfallaufnahmen seien hingegen meist organisatorischer Natur und
nicht durch einen speziellen Facharzt zu lösen.
Ähnlich äußerte sich Professor Dr. med. Alexander Beck, Direktor der Klinik für
Unfall- und Wiederherstellungschirurgie im Juliusspital Würzburg. Entscheidend
sei, dass in der Notfallaufnahme Facharztkompetenz vorgehalten werde. Für den
Anästhesisten Professor Dr. med. Bernd Böttiger, Köln, Direktor der Klinik für
Anästhesiologie und Operative Intensivmedizin an der Uniklinik Köln und
Vorsitzender des European Resuscitation Councils, war vor allem die Frage nach
der Behandlungsqualität entscheidend. "Was macht eine Veränderung mit der
Qualität?" - dieser Frage müsse evidenzbasiert nachgegangen werden. Er
präsentierte das Ergebnis einer vergleichenden Untersuchung des Outcomes von
Notfallpatienten aus Bonn und Birmingham, und führte aus, dass das (bessere)
deutsche Ergebnis aus seiner Sicht gegen einen eigenen Facharzt für
Notfallmedizin spräche. Er bezweifelte zudem, dass sich ein breitgefächerter
Facharzt für Notfallmedizin die benötigten Fertigkeiten in der notwendigen
Qualität aufrecht erhalten kann und plädierte für eine zweijährige
Zusatzweiterbildung nach der Facharztanerkennung, die vorzugsweise aus einem der
notfallmedizinischen Kernfächer stammt.
Professor Dr. med. André Gries, Direktor der interdisziplinären Notaufnahme
Klinikum Fulda, sprach sich für eine zentrale Notaufnahme (ZNA) aus. Dort sollen
alle ungeplanten (Notfall-)patienten erstbehandelt werden. In der ZNA erfolgt
eine fachspezifische Behandlung und Diagnostik durch ein multidisziplinäres
Team. Der Leiter der ZNA hat nach den Vorstellungen Gries? vor allem
organisatorische Aufgaben. Die notfallmedizinische Kompetenz sieht er ebenso wie
Polonius als notwendigen Teil der jeweiligen Facharztweiterbildung an.
Anders Dr. med. Peter-Friedrich Petersen, Chirurg, Unfallchirurg und Leiter der
interdisziplinären Notaufnahme der Uniklinik Aachen sowie Mitglied im Vorstand
der Deutschen Gesellschaft Interdisziplinäre Notfallaufnahme (DGINA): Vor dem
Hintergrund einer flächendeckenden Einführung eines eigenen Facharztes inner-
und außerhalb Europas dürfe Deutschland dieser Entwicklung nicht hinterher
laufen. Dem schloss sich Professor Dr. med. Hans-Richard Arntz, Stützpunktleiter
NAW/RTH am Charité - Campus Benjamin Franklin an: "Aus inhaltlichen und
organisatorischen Gründen ist die Zusammenfassung der präklinischen, klinischen
und eventuell innerklinischen Notfallmedizin sinnvoll und notwendig." Ein
eigener Facharzt sei wegen der immer stärker zunehmenden Spezialisierung
zwingend. "Ich bin deshalb überzeugt, dass sich ein Facharzt für
Notfallmedizin etablieren wird."
Von dort, wo sich dieser Facharzt schon längst etabliert hat, berichtete Dr.
med. Patrick Dissmann, Consultant in Emergency Medicine am James Cook University
Hospital im englischen Middleborough, einer Universitätsklinik mit 1600 Betten.
Er nutzte das von Professor Hartwig Bauer gemachte Zitat: "Wir brauchen keinen
solchen Tausendsassa", und widerlegte dieses Statement. Für ihn ist allerdings
auch klar, dass sich die umfassenden Fähigkeiten aus verschiedensten
Fachdisziplinen nur in einer ebenso umfangreichen Weiterbildung realisieren
ließen, die in Großbritannien acht Jahre beträgt. Ziel der Arbeit der englischen
Notfallmediziner sei es, den Patienten optimal, das heißt vor allem ohne
zeitliche Verzögerungen, auf Facharztniveau zu behandeln bzw. für die
fachspezifische Weiterbehandlung adäquat vorzubereiten. Die als Qualitätsziel in
England gesetzlich verankerte "Turnover-Zeit" von 4 Stunden werde in der durch
Notfallmediziner geführten Einrichtungen stets deutlich unterschritten.

Vorstandsmitglied Dr. Werner Wyrwich hatte die Veranstaltung initiiert.
Alles eine Frage der Organisation?
In der anschließenden Diskussion wurden weitere Argumente Pro und Kontra eigenem
Facharzt eingebracht. Dissmann sprach dabei die ökonomischen Aspekte an. Gerade
in Zeiten knapper Ressourcen sei das Facharztmodell attraktiv. Dem widersprach
Böttiger: "Wir sollten nicht überlegen, wie man mehr mit weniger Ärzten machen
kann." Im Vordergrund müsse immer die Qualität stehen. Dass die
Behandlungsqualität und die Schonung knapper Ressourcen sich nicht ausschließen,
sondern zusammengehören und mit dem Facharzt realisiert werden, war die Ansicht
von Petersen. Aus Sicht von Chirurg Polonius seien die Ursachen für bestehende
Mängel vor allem darin zu suchen, dass junge Ärzte in der Weiterbildung oft das
notwendige interdisziplinäre Denken und Arbeiten nicht lernen würden. In den
Augen von Unfallchirurg Beck sei primär eine gute Organisation für eine
hochqualitative Notfallversorgung entscheidend.
Von Seiten des Publikums wurde der Wunsch geäußert, die Probleme praxisnäher
zu betrachten. So sagte der Rettungsmediziner Dr. med. Henrik Schierz (Vivantes),
er sehe in der Einführung eines Facharztes für Notfallmedizin eine deutliche
Verbesserung. Dieser könne als adäquater Ansprechpartner für die
Rettungsmediziner fungieren. Die überwiegende Mehrheit des Publikums zeigte sich
ebenfalls von den Vorteilen eines eigenen Facharztes überzeugt, wie ein von
Werner Wyrwich initiiertes Stimmungsbild deutlich zeigte. Die Ärztekammer konnte
mit diesem fruchtbaren Diskussionsabend die verschiedenen Stimmungslagen gut
einfangen und herausarbeiten - auch wenn der Stachel bei dem einen oder anderen
etwas gepiekt hat.