Würden Geldflüsse in der Medizin in Zukunft ausschließlich an die Einhaltung
messbarer Indikatoren gekoppelt, wäre dies das Ende aller Konzepte, die eine
partizipative Entscheidungsfindung von Arzt und Patienten befördern wollen. Das
Kunststück, einerseits leitliniengerecht zu behandeln, aber dennoch
Entscheidungskorridore zu lassen, so dass Patienten bei der Wahl der Therapie
und der Ausgestaltung von Behandlungspfaden individuell mitentscheiden können,
ist eine der größten Herausforderungen in der Chronikerbetreuung der Zukunft.
Dies sind zwei wichtige Ergebnisse der Fachtagung "Adherence", die am 11.
Dezember 2009 im Hause der Ärztekammer Berlin stattfand. Es handelte
sich hierbei um eine Folgeveranstaltung zum Berliner Gesundheitspreis 2008.
Veranstalter waren neben der Ärztekammer Berlin der AOK Bundesverband und die
AOK Berlin. Gemeinsam mit Experten und Fachleuten aus dem Publikum wurden die
Möglichkeiten und Grenzen Adherence-fördernder Instrumente diskutiert. Zudem
wurde überlegt, wie das Konzept einen breiteren Eingang ins Medizinstudium, in
die ärztliche Fortbildung, aber auch in die Vertragsgestaltung mit den
Krankenkassen und in die ärztliche Qualitätssicherung finden kann.
Zusammenfassung der Veranstaltung
Hinter dem etwas sperrigen Anglizismus "Adherence" steckt ein anspruchsvolles
Kommunikationskonzept, das allerdings - so betonte Professor Norbert Schmacke
von der Universität Bremen - noch nicht komplett "fertig" ist.
Nach WHO-Definition bezeichnet die Adherence zunächst einmal nur das Ausmaß, in
dem das Verhalten eines Patienten mit den Behandlungszielen und -wegen
übereinstimmt. Dem geht ein gemeinsamer Entscheidungsprozess voraus. Dabei
informiert der Arzt den Patienten dezidiert über sein persönliches
Erkrankungsrisiko oder seine bereits manifeste Erkrankung und stellt ihm die zur
Verfügung stehenden Therapieoptionen in Nutzen und Risiken evidenzbasiert vor.
Die Entscheidung über die einzuschlagende Therapie wird von beiden gemeinsam
getroffen.
Gemeinsames Entscheiden ist sinnvoll wenn?
- chronische und stark lebensverändernde Erkrankungen vorliegen, deren
Therapie Konsequenzen für die weitere Lebensführung des Patienten,
- überhaupt mehrere gleichwertige, im besten Fall evidenzbasierte
Therapieoptionen zur Wahl stehen,
- Patienten eine Beteiligung wünschen.
Eine besondere ärztliche Haltung
Die Förderung größtmöglicher Adherence setzt eine besondere Haltung des
Arztes zu seinem Patienten voraus. Er muss innerlich offen und über weite
Strecken aktiv zuhörend arbeiten; eine Haltung, die die Autonomie des Patienten
respektiert und für beide Seiten durchaus ungewohnt sein kann. Förderlich sind
einer solchen Kommunikation sogenannte "Decision Aids" (Entscheidungshilfen),
die das persönliche Risikoprofil des Patienten anschaulich zeigen und
verschiedene Therapie-Optionen in ihren individuellen Wirkungen und Risiken
verständlich vorstellen. Solche Hilfen können elektronischer Natur sein, aber
auch aus Texten, Broschüren oder Zusammenfassungen bestehen, die eine
persönliche Beratung begleiten. Die individuelle Lebenssituation des Patienten
und seine wichtigsten Behandlungsziele müssen aktiv abgefragt werden. Timing und
Wortwahl sind dabei sicherlich sowohl Patienten, wie Krankheits- und
Arzttyp-abhängig.
Wie viel Zeit dieses Vorgehen kostet, wurde seitens der Teilnehmer
unterschiedlich bewertet. Der Bremer Hausarzt Günter Egidi sprach von einem
"beträchtlichen Mehraufwand", den er auch nur in bestimmten
Behandlungssituationen betreiben könne. Professor Martin Härter vom
Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf verwies hingegen auf eine Studie aus dem
Jahre 2007, die bei gemeinsamer Entscheidungsfindung mit Diabetikern nur 2 bis 3
Minuten mehr Aufwand im Vergleich zum herkömmlichen Aufklärungsgespräch
verbuchte. Wer von beiden der Wahrheit am nächsten liegt, blieb offen.
Sind die Patienten am Ende gesünder?
Die spannende Frage, ob eine gemeinsame Entscheidungsfindung auch zu besseren
Behandlungsergebnissen führt, lässt sich (noch) nicht eindeutig beantworten.
Norbert Schmacke zitierte eine systematische Cochrane-Review aus dem Jahre 2008,
die sich auf die Auswirkungen Adherence-fördernder Instrumente auf
Arzneimitteleinnahmen und allgemeinen Gesundheitszustand der Patienten bezog. Es
zeigte sich, dass bei Kurzzeitbehandlungen eine gute, durch schriftliches
Informationsmaterial und telefonische Erinnerungssysteme gestützte Behandlung
die Therapietreue nachweislich verbessert. Bei Langzeitbehandlungen empfiehlt
sich indes eine breite Kombination verschiedenster Instrumententypen. Gute
Beratungsgespräche, schriftliche Zusatzinformationen, Reminder-Systeme,
Dokumentationshilfen und elektronisches Monitoring, aber auch telefonische
Nachfasseraktionen können in Kombination die Therapietreue auch in der
Behandlung chronischer Langzeitleiden verbessern. Allerdings waren auf lange
Sicht die Erfolge eher bescheiden. Erdrutschartige Verbesserungen des
Gesundheitszustandes der Patienten konnte die Cochrane-Review auf lange Sicht
nicht vermelden.
Therapietreue liegt um 19 % höher
Das mag jedoch auch an den Untersuchungszielen der bislang zu diesem Thema
vorhandenen Forschungsprojekte liegen. Martin Härter betonte, dass es kaum
Studien gebe, die den Gesundheitszustand von Patienten, die an der
Therapieentscheidung beteiligt wurden, auch langfristig mit dem einer anders
betreuten Kontrollgruppe vergleichen. Die bislang vorhandenen Untersuchungen
beschäftigen sich stattdessen mit dem Wissenszuwachs der Patienten, messen ihre
Zufriedenheit oder den Grad des Einhaltens der getroffenen Entscheidung.
Ebenfalls fehlen Untersuchungen, die die Effekte zwischen Therapie und Status
quo (ohne Therapie) erforschen. Denn auch das Ausschlagen einer therapeutischen
Intervention kann ja ein Ergebnis partizipativer Entscheidungsfindung sein. Was
allerdings eine Review von Nierek und DiMatteo aus dem Jahre 2009 zeigte:
Arzt-Patienten-Kommunikation und Adherence sind positiv korrelliert. Das Risiko,
dass sich der Patient nicht an Absprachen hält oder seine Medikamente nicht
regelmäßig einnimmt, ist bei einem ungünstigen ärztlichen Kommunikationsstil um
19 % erhöht. Und verschiedene große Übersichtsarbeiten zum Thema zeigen, dass
gemeinsame Therapieentscheidungen
- zu einer realistischeren Erwartung an Erkrankungsverläufe führen,
- das Wissen und damit die Möglichkeit zur Mitarbeit des Patienten
erhöhen,
- die Therapietreue erhöhen,
- die gegenseitige Zufriedenheit mit dem Behandlungsverlauf verbessern und
- schwierige, lebensverändernde Therapieentscheidungen erleichtern.
In diesen Ergebnissen sieht der Bielefelder Pflegewissenschaftler Dr. Michael
Schulz eine Stärke des Konzepts. Es sei völliger Unsinn, zu messen, ob ein
Patient seine Medikamente eingenommen hat oder nicht, so Schulz. Vielmehr zähle
allein, ob der Patient für sich und sein Leben eine gute Entscheidung getroffen
habe. Schulz hat an den Bethel-Kliniken in Bielefeld eine Kurzintervention für
Schizophreniepatienten etabliert, deren Ziel es ist, das Selbstmanagement der
Patienten zu verbessern und gemeinsam erarbeitete Therapieziele auch
einzuhalten. Das Projekt arbeitet mit eigens dafür geschulten Pflegekräften.
Scharfe Kritik übte Schulz jedoch an den Kostenträgern, die Kliniken zwingen,
einen vorgegebenen Behandlungspfad einzuschlagen, sonst fließt kein Geld. Eine
solche Finanzierungslogik führe die Ziele einer gemeinsamen offenen
Therapieentscheidung ad absurdum.
Geldflüsse nach meßbaren Indikatoren ?
Und in der Tat beißt sich das Adherence-Konzept an dieser Stelle mit allen
Finanzierungssystemen, die an die Erfüllung zuvor festgelegter Standards
gekoppelt sind und den therapeutischen Freiraum eng bemessen. Auch die Idee des
Pay for Performance (P4P) kann hierzu gerechnet werden. Zwar ist die pure
Existenz flächendeckender Behandlungsleitlinien ein großer Fortschritt in der
Medizin. Doch das Konzept der Adherence-Förderung beruht letztlich darauf, dass
es möglich ist, sich von solchen Therapieschemata zu lösen und flexibel auf
Lebensumstände und Ziele des Patienten zu reagieren. Wie es Ärzte schaffen
können, dem Patienten zwar eine leitliniengerechte Behandlung anzubieten und
dies auch dokumentieren, sich jedoch von diesem Schema zu lösen, wenn der
Patient dies wünscht, ohne sich dabei dem Vorwurf der Manipulation und
Leistungskürzung auszusetzen, bleibt eine spannende Frage. Doch sobald Geld nur
dann fließt, wenn auch entsprechende Verordnungen getätigt und
Behandlungskaskaden ausgelöst werden, kann eine partizipative
Entscheidungsfindung am Ende nicht stattfinden. Kai Kolpatzik, Leiter der
Abteilung Prävention beim AOK- Bundesverband, plädierte deshalb dafür, bei
Vergütungssystemen der Zukunft breitere Entscheidungskorridore einzuplanen, die
eine solche Flexibilität zulassen. Grundsätzlich sei es wichtig, bei der
Vergütung bereits den Einsatz Adherence-fördernder Instrumente positiv zu
berücksichtigen, was derzeit in kleineren Vertragsstrukturen modellhaft erprobt
werde.
Mehr "Kommunikation" ins Medizinstudium
Die abschließende Podiumsdiskussion sah denn auch das Thema
"Finanzierungslogiken" als größte Herausforderung für die Etablierung
partizipativer Entscheidungskonzepte in der Gesundheitsversorgung. Als völlig
unbefriedigend bewerteten die Teilnehmer den derzeitigen Stellenwert des Themas
?Kommunikation? in der deutschen Medizinerausbildung. Zwar verfüge etwa die
Hälfte aller Universitäten mit humanmedizinischem Studiengang in Deutschland
über Kommunikationslehrgänge, so Dr. med. Christoph
Heintze vom Institut für Allgemeinmedizin der Charité. Allerdings können
diese Schulungen letztlich nur ein Anreißer sein. Es sei wichtig, dass im Laufe
des ärztlichen Berufslebens immer wieder zur Kommunikation geschult werde. Hier
liegt ein breites Aufgabenfeld für Ärztekammern und Anbieter qualifizierter
Fortbildungen.
Kommunikationsprozesse zur Förderung der Adherence werden in Zukunft nicht
nur allein durch Ärzte, sondern zunehmend auch von Pflegekräften durchgeführt.
Eine anspruchsvolle neue berufliche Spezialisierungsmöglichkeit für diese
Berufsgruppe. Beispiele hierfür bieten entscheidungsoffene Beratungsinstrumente
wie Gesprächsinterventionen in der Psychiatrie (Beispiel: Kurzinterventionenen
bei Schizophreniepatienten in Bielefeld) oder
Patientenschulungen und -beratungen, die mit Dokumentationshilfen gekoppelt
werden (Beispiel: Begleitung von Brustkrebspatientinnen am Evangelischen
Waldkrankenhaus Spandau/Berlin unter Einsatz geschulter Breast-Nurses). Derzeit
schon damit betraute Pflegekräfte nehmen die zusätzlichen Aufgaben, die ihnen
bei Anwendung Adherence-fördernder Instrumenten zuwachsen, als bereichernd wahr,
bestätigte Kerstin Wollenburg, leitende Pflegekraft am Waldkrankenhaus Spandau.
Zwar sei all dies grundsätzlich mit einem erheblichen Mehraufwand verbunden, der
den Pflegenden bislang nicht vergütet wird, allerdings erhöhe sich die
Arbeitszufriedenheit und die Möglichkeit, aktiv am therapeutischen
Entscheidungsprozess mitzuwirken. Es ist absehbar, dass auch in der
pflegerischen Aus- und Fortbildung Kommunikationsinstrumente und der Einsatz
unterschiedlicher Entscheidungshilfen an Bedeutung gewinnen.
Und wenn die Patienten Kinder sind ?
Ein besonders schwieriges Feld, das auf der Tagung nur angerissen werden
konnte, ist die Partizipative Entscheidungsfindung im kinderärztlichen Bereich.
Dr. med. Rainer Boor vom Norddeutschen
Epilepsiezentrum in Raisdorf/Kiel, der die elektronische
Dokumentationsplattform Epivista zur Behandlung von Epileptikern vorstellte,
muss einen Großteil seiner Patientenkommunikation über die Angehörigen führen.
Ein Vater eines epilepsiekranken Kindes war auf der Tagung zu Gast und
berichtete beispielhaft von seinen Erfahrungen. Auch bei der Behandlung
chronisch kranker Kinder ist eine gemeinsame Entscheidungsfindung möglich, sie
muss jedoch berücksichtigen, dass oft nicht der Patient selbst, sondern eben
seine Eltern und Angehörigen in den Entscheidungsprozess einbezogen werden.
Dieses Setting bedarf einer besonders sorgfältigen Schulung der Ärzte und
Pflegenden; ein Feld, was derzeit noch kaum beackert wird.
Für jede Krankheit eine eigene Strategie sinnvoll
Es zeigt sich, dass für unterschiedliche Krankheitsbilder sehr
unterschiedliche Instrumententypen sinnvoll sind. Bietet sich zum Beispiel bei
der Behandlung der Epilepsie eine IT-gestützte Dokumentationshilfe wie die
Software Epivista, möglicherweise kombiniert mit weiteren
Self-Monitoring-Systemen an, so muss z.B. bei Brustkrebspatienten oder psychisch
Kranken völlig anders angesetzt werden. Kommunikationsorientierte Konzepte, wie
die mit dem 2. Preis ausgezeichnete Kurzintervention bei Schizophreniepatienten
oder die bereits erwähnten Breast-Nurses des Waldkrankenhauses Spandau stehen
hier im Vordergrund.
Bei der individuellen Risikoabschätzung zu den großen Volkskrankheiten und
der Wahl bestimmter Behandlungsstrategien und Verhaltensänderungen liegt ein
attraktives Einsatzgebiet elektronischer Entscheidungshilfen. Der
Wettbewerbssieger arriba, eine Beratungssoftware für Hausärzte zum Thema
"Herz-/Kreislauferkrankungen" ist dafür ein anschauliches Beispiel. Dem
Patienten wird zunächst auf Basis seiner persönlichen Daten ein individuelles
Krankheitsrisiko ausgerechnet. Das Programm offenbart, wie viele von 100
potenziellen Doppelgängern des Patienten im Laufe der nächsten Jahre an einem
Herzinfarkt oder einem Schlaganfall sterben würden. Dies geschieht anhand
verschiedenfarbiger Smilies auf dem Bildschirm, die Risiken sichtbar
quantifizieren können. Nun kann der Patient sehen, wie sich bestimmte
Lebensstiländerungen oder die Einnahme von Medikamenten auf die Entwicklung der
Smilies auswirken würden. Es steht ihm selbst offen, was er aus diesen
Informationen macht, ein Faktum, das die beiden "Väter" der arriba-Software,
Professor Norbert Donner-Banzhoff und Professor Attila Altiner deutlich
betonten.
Dieses Loslösen von eigenen ärztlichen Überzeugungen ist sicherlich der für
Ärzte schwierigste Aspekt der Adherence-Förderung. Aber es kann ärztliches
Arbeiten auch befriedigender machen, denn es entlastet vom Wunsch, den Patienten
partout in eine bestimmte Richtung bewegen zu wollen. Und damit entlastet er von
der frustrierenden Erfahrung, dass dies eben am Ende nicht möglich ist.