Professor Dr. med. Bruno Müller-Oerlinghausen
Facharzt für
Pharmakologie und Toxikologie
sowie Facharzt für Klinische Pharma-
kologie,
Univ.-Prof., ehemals an der
Psychiatrischen Klinik der Freien
Universität Berlin.
Mitglied der
Arznei-
mittelkommission der deutschen
Ärzteschaft (AkdÄ) seit 1982,
Vorstandsmitglied 1982-2006,
Vorsitzender 1994-2006.
Gründungsmitglied der Initiative unbestechlicher Ärztinnen
und Ärzte "MEZIS -
Mein Essen zahl´ ich selbst e.V. " |
BÄ: Wie findet die
Beeinflussung der Pharmaindustrie in der Praxis statt?
Müller-Oerlinghausen:
Die Beeinflussung vollzieht sich auf den verschiedensten Ebenen. Ich fange mal
damit an: Der Patient hat in der Apotheke die Aufsteller zu einem bestimmten
Präparat gesehen. Auch die "Apotheken Umschau", die man gratis erhält, wird sehr
gern gelesen, ist aber eindeutig pharmalastig. Und wenn wir Pech haben, dann ist
der künftige Patient auch schon der in Europa bislang verbotenen Werbung für
rezeptpflichtige Arzneimittel ausgesetzt gewesen. Dann kommt der Patient ins
Wartezimmer beim Arzt. Da liegen vielfältige Broschüren zu seiner Information
aus. 80 bis 90 Prozent dieser Materialien sind von der Pharmaindustrie
geschrieben oder von der Pharmaindustrie bei entsprechenden Agenturen in Auftrag
gegeben worden. Das heißt, der Patient kommt bereits mit bestimmten
Vorstellungen zum Arzt, die von den Interessen der Pharmaindustrie nicht
unabhängig sind.
Und der Arzt?
Das hängt davon ab, wie er
sich gegenüber der Pharmabeeinflussung positioniert. Je nachdem wie er sich
einstellt, ob er ein MEZIS-Anhänger ist oder nicht, ist er dem Bombardement der
Information- beziehungsweise der Desinformation der Pharmavertreter ausgesetzt.
Über Nebenwirkungen von Medikamenten oder über Kosten sprechen diese Vertreter
nicht. Der Arzt wird jedoch durch kleine Gaben wie Kugelschreiber, Notizblöcke,
Kalender etc., die auch nach dem neusten Verhaltenskodex für Praxisbesucher noch
erlaubt sind, unentwegt an bestimmte Präparate und deren Hersteller erinnert.
Sein diesbezügliches Verhalten wird von der Pharmaindustrie in entsprechenden
Lehrbüchern für Pharmareferenten klassifiziert. Der Arzt ist zum Beispiel
entweder ein "Apostel", das heißt er glaubt an die Segnungen der Pharmaindustrie
oder er ist ein "Rebell" und hat einen Widerstand gegen die Informationen der
Pharmaindustrie, was für diese eher beunruhigend ist. Letztlich hat der Arzt
Informationsmaterial verschiedenster Art vor sich liegen. Ich gehe davon aus,
dass nicht alle Praxen so ausgestattet sind, wie es eigentlich
selbstverständlich sein sollte: von jeder Substanz, die der Arzt verordnet,
liegt ihm auch die Fachinformation vor oder steht zumindest im Aktenordner im
Schrank. Absolut unabhängig ist aber auch die Fachinformation nicht, denn sie
transportiert die Sicht des Herstellers, die jedoch von der Bundesoberbehörde
immerhin "abgesegnet" ist.
Ärzte sind mündig genug und
können sich doch bei eventuell tendenziellen Fortbildungen ihr eigenes Urteil
bilden, oder?
Das ist ein Glaube, den
viele Ärzte und Ärztinnen haben. Ich selber habe früher auch angenommen, dass
wir Ärzte nicht beeinflussbar sind. Aber viele Studien zeigen, dass dies sehr
wohl der Fall ist. Sei es in den Fortbildungsveranstaltungen oder durch
Publikationen von Studienergebnissen in irgendwelchen Gratiszeitschriften, die
dem Arzt täglich ins Haus flattern und die häufig in enger Kooperation mit
Pharmaherstellern geschrieben worden sind. Der Arzt bekommt eine Sicht der Dinge
- man muss schon fast sagen - aufoktroyiert, die eben nicht unabhängig ist und
deren Einfluss er sich kaum entziehen kann.
Ich habe vor kurzem gerade
wieder in einer Studie gelesen, dass die Einflussnahme schon bei
Medizinstudierenden anfängt. Dabei kommt es gar nicht auf die Höhe der Geschenke
an. Man hat festgestellt, dass auch kleine Zuwendungen wie Kugelschreiber bei
Medizinstudenten schon dazu führen, dass sie die Produkte des Herstellers, von
dem die Kugelschreiber kommen, positiver bewerten.
Wie kann sich denn ein Arzt
den Einflüssen der Pharmaindustrie entziehen?
Er hat viele Möglichkeiten.
Und es wäre sehr erfreulich, wenn die Organe der verfassten Ärzteschaft mehr
dafür tun würden, dass die Quellen unabhängiger Information dem Arzt auch
nahegebracht werden. Es gibt ja unabhängige Institutionen: die bekannteste ist
wohl das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen
(IQWiG), das aktuelle Informationen zeitnah ins Netz stellt.
Auch die AkdÄ (Arzneimittelkommission der Ärzteschaft) die seit fast
100 Jahren den Auftrag hat, die Ärzteschaft unabhängig und kritisch zu beraten,
ist mit ihren Produkten bei den Ärzten viel zu wenig bekannt. Es gibt zum
Beispiel die Bücher "Evidenzbasierte Therapieleitlinien" sowie die
"Arzneiverordnungen" der AkdÄ. Letzteres wird anonym verfasst, so dass von
Seiten der Hersteller kein Druck auf einzelne Autoren ausgeübt werden kann.
Die AkdÄ informiert im
Auftrag der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) über problematische
Wirkstoffe: die Flyer erscheinen unter der Rubrik "Wirkstoff aktuell" im
Deutschen Ärzteblatt. Diese Hinweise beschreiben auf der Basis der
wissenschaftlichen Erkenntnisse den Stellenwert neuer Arzneimittel in einer
bestimmten Indikation und liefern dem niedergelassenen Arzt neutrale
Informationen für seine Verordnungsentscheidung.
Auch das Internetportal der
KBV "AIS" (Arzneimittel-Infoservice) informiert aktuell zum Thema Arzneimittel.
Weiterhin gibt es eine ganze Reihe unabhängiger Zeitschriften in Deutschland:
Zum Beispiel "Der Arzneimittelbrief", das "arznei-telegramm", und
"Arzneiverordnung in der Praxis". Sie sind alle Mitglied der International
Society of Drug Bulletins (ISDB), einer weltweiten Vereinigung unabhängiger
Arzneimittelzeitschriften. Auch die hervorragende französische Fachzeitschrift
"Revue Prescrire", die auch als "Prescrire International" erscheint, informiert
die Ärzte bei Interesse unabhängig, umfassend und kritisch.
Das Problem für den Arzt,
wenn er sich auf die Informationen der Pharmaindustrie verlässt, ist, dass diese
nicht nur nicht unabhängig, sondern auch nicht wertend und vergleichend sind.
Oder wenn doch, dann nur im Interesse des Herstellers.
Es gibt eine einzige
Zeitschrift, die wirklich unabhängig und für Laien gedacht ist: Die
Verbraucherzeitschrift "Gute Pillen - Schlechte Pillen". Die Herausgeber sind
"Der Arzneimittelbrief", das "arznei-telegramm", "AVP-Arzneiverordnung in der
Praxis" und der "Pharma-Brief".
Informieren sich denn Ärzte
im Rahmen ihrer Möglichkeiten?
Der Fortbildungswille
einzelner Ärzte ist sicher sehr unterschiedlich ausgeprägt wie auch die
Sensibilität hinsichtlich unserer Beeinflussbarkeit durch pharmagesponserte
Informationen. Es ist dringlich anzustreben, dass die häufig anzutreffende
ärztliche Blauäugigkeit hinsichtlich der raffinierten Beeinflussungsstrategien
der Industrie weiter reduziert wird.
Ich freue mich immer wieder
auf Fortbildungsveranstaltungen, dass ich Kollegen treffe, die sich als sehr
kritisch darstellen und diese gesamte Desinformationsstrategie der
Pharmaindustrie gründlich satt haben. Diese Kollegen gibt es gerade auch unter
den Hausärzten. Aber es gibt eben auch die anderen und da spielen wiederum
unsere ärztlichen Meinungsbildner eine große Rolle. Bei denen setzt die
Industrie bevorzugt an, um ihre Position zu stärken. Ihre Botschaften werden in
ärztlichen Fortbildungsveranstaltungen und in Leitlinienkommissionen
weitergetragen. Ärztliche Meinungsbildner beeinflussen das
Verschreibungsverhalten von Ärzten in großem Ausmaß.
Hans Weiss zitiert in seinem
Buch "Korrupte Medizin" die Managerin eines Schweizer Pharmaunternehmens, die
sagt, das Image der Pharmaindustrie nähere sich dem der Waffenindustrie. Können
Sie das bestätigen?
Ob man nun unbedingt den
Vergleich mit dem Waffenhandel benutzen soll, das ist Geschmackssache. Eines
steht fest: Um für ihre Aktionäre den größtmöglichen Gewinn zu erzielen, sind
die Methoden der Pharmaindustrie heutzutage außerordentlich raffiniert geworden
und können auch durchaus brutal sein. Das ist ein breites Spektrum. Die
Beeinflussung fängt auf den untersten Ebenen an und geht als breitflächiger
Lobbyismus bis in die höchsten Etagen der Politik. Wenn zum Beispiel ein
bestimmtes Präparat in seinem Vertrieb beschränkt oder vom Markt genommen oder
nicht mehr von den Krankenkassen erstattet werden soll, dann gehen unter
Umständen - falls es sich um eine ausländische Firma handelt - die Vertreter
dieser Firma zur Bundeskanzlerin oder zum Wirtschaftsminister und drohen damit,
ihre Fertigungen in Deutschland herunterzufahren, was Tausende Arbeitsplätze
kosten würde. Auf der politischen Ebene wird vor allem wirtschaftspolitisch
argumentiert, und zwar mit ganz harten Bandagen.
Ein wesentlicher Faktor für
das ärztliche Verordnungsverhalten sind die Patienten selbst, auch das hat die
Industrie erkannt. Man kann Druck über den Patienten auf den Arzt auszuüben.
Deswegen werden von den Firmen auch Patientenorganisationen finanziell
unterstützt. Man investiert in Blätter, die die Bürger gratis bekommen, man
beauftragt Agenturen, die Artikel für die Regenbogenpresse schreiben. Die machen
natürlich nicht direkt Werbung für ein bestimmtes Präparat eines Herstellers,
das dürfen sie nicht. Noch nicht. Aber sie bringen dem Patienten nahe, dass es
eine neue Krankheit gibt und wenn er die und die Symptome hat, dann gibt es
wieder ein Institut, wo er sich untersuchen lassen kann. Konsequenterweise wird
auch empfohlen, dass er sich unbedingt mit einem speziellen Medikament behandeln
lassen soll. So kommt der Druck auf die Ärzte zustande.
Wird der Einfluss der
Pharmaindustrie auf die Ärzteschaft weiterhin so massiv bleiben?
Ich bin ein
unverbesserlicher Optimist, obwohl ich im Rahmen meiner Tätigkeit bei der
Arzneimittelkommission wirklich auch den letzten Rest von Naivität verloren
habe. Der Weg, der von der Ärzteschaft beschritten werden muss, ist
vorgezeichnet, das sieht man etwa in den skandinavischen Ländern oder in England
und Amerika. Die sind diesbezüglich schon weiter, haben das Problem der immer
stärker werdenden Abhängigkeit der Medizin von der Industrie erkannt und machen
deutlich, dass es so nicht weiter gehen kann. Zum Beispiel hat das "Institute of
Medicine" in den USA vor kurzem sehr explizit gesagt, was von einer Ärzteschaft
zu verlangen ist, die sich weiterhin als ein akademischer, unabhängiger
Berufsstand sehen will.
Die öffentliche Kritik nimmt
zu und ihr wird sich weder die Pharmaindustrie noch die Politik, noch die
Ärzteschaft auf Dauer entziehen können. Insofern glaube ich, sind wir bei MEZIS
Vorreiter. Dass nicht jeder dieser Ärzteinitiative beitreten will, das ist ja
klar und das kann man auch gar nicht verlangen. Aber die Information, dass man
sich dem Druck von Seiten der Pharmaindustrie sehr wohl entgegenstellen kann,
muss verbreitet werden.
Gibt es in Deutschland sehr
viele Ärzte, die sich zwischen der Ablehnung der Pharmaindustrie einerseits und
der Teilnahme an pharmagesponserten Studien andererseits befinden?
Ich nehme mal an, es gibt
mehr Kollegen, die diesen Konflikt wahrnehmen, als man von außen wahrnehmen
kann. Wohin dann im Praktischen das Pendel ausschlägt, das hängt von vielen
Dingen ab und da spielt das Geld mit Sicherheit eine sehr große Rolle. Ein
Hochschullehrer, der Einfluss auf seine Studenten hat und Meinungsführer auf
seinem Gebiet ist, wird sich überlegen, ob er offensiv gegen die Praktiken
bestimmter Hersteller zu Felde zieht und möglicherweise empfiehlt, dass an
seiner Klinik keine Pharmaberater mehr empfangen werden.( In Amerika gibt es
eine Reihe von bekannten und großen Universitäten, deren Medizinische Fakultäten
beschlossen haben, dass keine Pharmavertreter mehr auf den Campus kommen.) Er
wird dann u.U. eine Zeit lang weniger Angebote zur Durchführung klinischer
Studien bekommen. Damit sinken sein Ansehen und sein Einfluss in der Fakultät
und bei der Universitätsverwaltung, die auf die Einwerbung auch industrieller
Drittmittel großen Wert legt. Auch die strikte Weigerung, honorierte
Positionen in irgendwelchen "Advisory Boards" der Industrie anzunehmen, wird vielleicht
seinen Einfluss in manchen Kreisen schwächen. Dafür wird er aber seine Zeit auch
nicht an wissenschaftlich uninteressante Studien verschwenden müssen und eher in
die Lage versetzt sein, gesellschaftlich wichtige Positionen z.B. im
gesundheitspolitischen Bereich oder innerhalb der ärztlichen Selbstverwaltung
etc. zu bekleiden. Damit wird er wieder an Einflussmöglichkeiten gewinnen.
Seine ärztlichen Nebeneinnahmen durch z.B. Behandlung von Privatpatienten werden
übrigens durch eine solche klare Position nach innen und außen in keiner Weise
geschmälert. Kurz, es geht darum, sich eindeutige Prioritäten zu setzen.
Wodurch haben Sie Ihre
Blauäugigkeit verloren?
Wenn man wie ich 12 Jahre
Vorsitzender der Arzneimittelkommission ist und dort 25 Jahre im Vorstand
gearbeitet hat, dann gibt es nichts mehr an zweifelhaften, ja schmutzigen
Praktiken , die man sich nicht vorstellen kann. Auch ich war mal sehr naiv. In
den frühen 70er Jahren, als ich in der Psychiatrischen Universitäts-Klinik in
Berlin angefangen habe zu arbeiten, hatte ich viele Gefechte mit Kollegen, deren
gesundheitspolitische Positionen ich heute nahe stehe. Ich wollte und konnte
damals bestimmte Dinge nicht glauben. Es braucht eine bestimmte Zeit, bis man
sich eingestehen muss, es ist tatsächlich so. Vielleicht nicht immer gerade so,
wie es Hans Weiss in seinem Buch "Korrupte Medizin" schreibt. Aber man muss das
beispielsweise erlebt haben, dass aus meinem Aktenkoffer im verschlossenen
Hotelzimmer Unterlagen der Arzneimittelkommission entwendet wurden, weil die
für einen Hersteller interessant waren. Spätestens dann wird man etwas
besinnlich. Man darf nicht vergessen, es geht hier um sehr viel Geld. Und es
geht um die Tatsache, dass bestimmte Substanzen, die keinen belegten
zusätzlichen Nutzen bringen, sondern nur teurer sind, ihren Umsatz in kurzer
Zeit so steigern konnten, dass sie Nummer zwei oder drei der weltweit
umsatzstärksten Arzneimittel sind. Das zeigt, welches Maß an Irrationalität hier
durch den massiven Einfluss der Industrie in die Verordnungen gekommen ist. Ich
glaube ganz sicher, die Medizin in 50-100 Jahren wird anders aussehen als wir
uns das heute vorstellen. Vermutlich auch ohne diese Total-Medikalisierung der
Gesellschaft, wie wir sie zurzeit erleben.
Das Gespräch führte Ulrike Hempel