(05.06.2009)
Brief des Präsidenten der Ärztekammer Berlin, Dr. med. Günther Jonitz, an den Verfasser des "Handelsblatt"-Artikels: Die Geldgier der Ärzte
Handelsblatt, 19.05.2009
Die Geldgier der Ärzte
von Peter Thelen
Regelmäßig vor den Ärztetagen warnen Deutschlands Funktionäre vor einem
drohenden Versorgungsnotstand im Gesundheitswesen. Der könne nur mit mehr Geld
abgewendet werden. Keiner trieb es dabei so weit wie der legendäre
Ärztepräsident Karsten Vilmar, der 1998 vor einem "sozialverträglichen
Frühableben" warnte. Die Zeit, die seitdem verstrichen ist, hat das in diesen
Tagen wieder lauter werdende Lamento längst unglaubwürdig gemacht.
Auch
die Fakten sprechen dagegen. In kaum einem Land steht dem Gesundheitssystem
mehr Geld zur Verfügung als in Deutschland. Nirgends haben gesetzlich
Versicherte unabhängig vom Einkommen Zugang zu allen Formen der Versorgung,
vom Barfußmediziner um die Ecke bis zum Spezialisten. Jedes neu zugelassene
Medikament steht in Deutschland allen gesetzlich Versicherten zur Verfügung,
egal was es kostet. Das gilt auch für jede neue Krankenhausbehandlung.
Diesen Luxus genießen Sozialversicherte sonst nirgends auf der Welt. Auch
beim viel diskutierten Thema Wartezeiten auf einen Behandlungstermin steht
Deutschland blendend da. Nach einer aktuellen Studie sind sie in Europa nur
in Belgien noch kürzer.
Verdeckte
Rationierung, also den Verzicht auf eigentlich sinnvolle Behandlungen vor
allem bei alten Patienten, wie sie Ärztepräsident Jörg D. Hoppe gestern
wieder anprangerte, gibt es gleichwohl auch hier. Doch sie ist nicht die
Folge von zu wenig Geld im System. Vielmehr gibt es in Deutschland, wie der
Sachverständigenrat für das Gesundheitswesen vor Jahren herausgearbeitet
hat, noch immer ein Nebeneinander von Über-, Unter- und Fehlversorgung.
Grund
sind die historisch gewachsenen Versorgungsstrukturen. Während sich in
Großstädten wie München die Ärzte knubbeln, fehlen sie auf dem flachen Land.
Neben einem dichten Netz von Kliniken leistet sich Deutschland immer noch
ein System teurer Facharztpraxen. Leitbild des Arztberufs ist noch immer die
lukrative Einzelpraxis. Dabei wären die Patienten, vor allem wenn sie
schwerer erkrankt sind, viel besser bei Praxisgemeinschaften, medizinischen
Versorgungszentren oder auch Facharztambulatorien der Krankenhäuser
aufgehoben. Sie sind nicht nur medizinisch erfolgreicher. Sie arbeiten auch
wirtschaftlicher.
Doch
genau dagegen kämpft die Lobby der Kassenärzte und nährt damit den Verdacht,
dass sie das Wohl der Patienten nur im Munde führt, um in Wahrheit den
freiberuflichen Ärzten Einkommen und Pfründe auf Kosten der Beitragszahler
zu sichern. Eine Strategie, die bislang Erfolg gehabt hat. So bringt die
gerade beschlossene Honorarreform jedem Kassenarzt im Durchschnitt ein
Einkommensplus von 20.500 Euro im Jahr.
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Brief des Präsidenten der Ärztekammer Berlin,
Dr. med. Günther Jonitz,
an den Verfasser des "Handelsblatt"-Artikels:
Sehr geehrter Herr Thelen,
nachdem wir uns beim letzten Hauptstadtkongress persönlich kennengelernt haben,
habe ich heute das Vergnügen, Ihren Artikel "Die Geldgier der Ärzte" zu lesen.
Ich freue mich immer, wenn auch alt gediente Vertreter der Medien
Allgemeinplätze und Klischees bedienen. Es wird dadurch leider weder das
eigentliche Problem erhellt, noch werden Lösungen aufgezeigt.
Es stimmt, dass in kaum einen anderen Land im Gesundheitssystem mehr Geld zur
Verfügung steht als in Deutschland. Nur erreicht es nicht den Patienten.
Gemessen an den Gesundheitsausgaben befindet sich Deutschland im internationalen
Vergleich auf Platz 4, an den Pro-Kopf-Ausgaben allerdings nurmehr an zehnter
Stelle (OECD 2008). Die neu zugelassenen Medikamente stehen schon lange nicht
mehr komplett den Versicherten zur Verfügung. Allein durch die Budgetierung im
ambulanten Sektor wird streng darauf geachtet, keine Verordnungen zu treffen,
die den Arzt wiederum in Regresspflicht treiben könnten. Im Rahmen der
Rabattverträge werden die Medikamente inzwischen nicht mehr zwischen Arzt und
Patient abgesprochen, sondern von der Krankenkasse ausgegeben. Kennen Sie ein
anderes System auf diesem Globus, das die Rechte dieser beiden Gruppen dermaßen
einschränkt?
Wenn die Verhältnisse für Ärztinnen und Ärzte in Deutschland tatsächlich so
ideal wären, wie Sie es beschreiben, wäre der Stellenteil im Deutschen
Ärzteblatt bei Leibe nicht so umfangreich, würden sämtliche ostdeutschen Länder
keine Verträge mit der österreichischen Ärztekammer abgeschlossen haben, in
denen sie um den Import von österreichischen Jungärzten buhlen respektive
zahlreiche Kliniken zahlreiche Probleme bei der Wiederbesetzung von freien
Stellen haben und Praxissitze frei blieben.
Die zentrale Berufsgruppe mit dem höchsten Insiderwissen stimmt derzeit mit
den Füßen ab und verweigert sich den Bedingungen der konkreten
Patientenversorgung in Deutschland. Allein dies sollte nachdenklich machen.
Die von Ihnen kritisierte doppelte Facharztschiene hat insoweit ihre
Daseinsberechtigung, als dass Fachärzte in der freien Praxis sich mit ihrem
Tätigkeitsspektrum zum Teil ganz erheblich von dem Tätigkeitsspektrum der
Fachärzte in den Krankenhäusern unterscheiden. Diverse Fachärzte existieren
deshalb, weil es dem Ideal von Arzt und Patient am meisten entspricht, nämlich
einen Arzt vorzufinden, der sich bedingungslos und ohne weiteren systemfremden
Vorgaben gehorchen zu müssen, dem Problem der Patienten widmen kann und dies
wohnortnah durchführt. Auch der über 70-jährige Patient geht mit seinen
Beschwerden beim Wasserlassen lieber zum Urologen als zum Hausarzt und die
Patientin in der Menopause mit einem Problem im Unterleib lieber zum Gynäkologen
als zum Facharzt für Allgemeinmedizin.
In den USA wird das Fehlen einer niedergelassenen Facharztschiene als eine
der Ursachen für hohe Krankenhauskosten angesehen.
Falls Ihnen Beispiele für die schleichende Rationierung fehlen, kann ich
Ihnen zahlreiche liefern:
- "Mit ca. 65 bis 70% stellt der Personalbereich den Hauptblock der Kosten dar.
... Für die Krankenhausleitung bleibt die qualitative Besetzung (zum Beispiel
AiP anstelle Assistenzarzt) der Stellen, die Anzahl der Stellen und Teile der
variablen Personalkosten (Bereitschaftsdienste) beeinflussbar. Die Einhaltung
des extern vereinbarten Personalbudgets, vermindert um eine kalkulierte
Sicherheitsrate, ist der Hauptansatzpunkt jedes Kostenmanagements."
(f&w, 3/96, S. 200-206).
- Privater Krankenhausträger eines städtischen Krankenhausträgers in
Baden-Württemberg. Als erste Maßnahme werden pro Etage nur noch eine Schwester
im Nachtdienst eingesetzt. Wird diese auf die Nachbaretage gerufen, z.B. weil
ein schwergewichtiger Patient aus dem Bett gefallen ist, sind 50 Patienten auf
sich alleine gestellt und helfen sich gegenseitig.
- Im Krankenhauskonzern Vivantes in Berlin werden die Bereitschaftsdienste von
Neurologen und Urologen abgeschafft, neurologische Patienten werden vom
Internisten und urologische vom Chirurgen betreut.
- In Brandenburg werden fast alle Krankenhausabteilungen für Kinderheilkunde
aufgelöst. Kinder werden wieder wie in den 50er Jahren auf Erwachsenenstationen
für Innere Medizin von erwachsenen Ärzten betreut.
- "Aus meiner AiP-Zeit: Innere, allein fürs ganze Haus (120 Betten) zuständig.
Zwei Infarkte gleichzeitig mit Reanimationen etc. Oberarzt angerufen, nicht
erreichbar. Halbe Stunde noch Mal versucht - mürrisch "das ist doch wohl allein
zu schaffen" - aufgelegt. Nachtschwester gebeten, eine 40er Lasix zu bringen, da
im Notkoffer nicht vorhanden. Sie kommt nach 5 Minuten zurück und sagt, wir
haben keine 40er nur 20er Ampullen, ohne irgendetwas vorbereitet zu haben und
reicht mir eine Lasix-Tablette. Oberarzt kam nach 2 Stunden, 2 Tote. Das war vor
sechs Jahren. Im weiteren Verlauf habe ich noch ähnliche, vielleicht nicht ganz
so extreme Vorkommnisse in anderen Häusern erlebt. Ist ja eigentlich nichts
Besonderes." ("Forum Ausbeutung Junger Ärztinnen und Ärzte" vom 06.01.2003).
- "Ich war in Luckenwalde. Als ich wegging, war das fürs Haus wie folgt
geregelt: Es gab einen sogenannten Hausdienst und Rettungsdienst. Der
"Hausdienst" war eben für alle ärztlichen Belange im Haus zuständig,
Gynäkologie, Chirurgie, Innere, teilweise Kinder, auch für die stationären
Einweisungen von draußen. Es gab natürlich einen Hintergrund, das ist der
Fachbereite, der sich aber in der Regel nicht im Haus aufhielt. War der
Rettungsstellenarzt im Einsatz mit dem Notarztwagen (was ja manchmal lange
andauern konnte - Unfälle, psychiatrische Fälle, die in die Fachklinik mussten
mit ärztlicher Begleitung oder einfach ein Einsatz ans Randgebiet des Kreises)
war die Rettungsstelle erstmal nicht besetzt und musste der Hausdienst dort auch
noch mit ran.
Ich kann mich erinnern, dass die Schwester der Rettungsstelle für diesen Fall mal den
"Fachhintergrund" gerufen hätte. Ach so, natürlich, wenn operiert wurde, was
ziemlich oft war, musste der Hausdienst assistieren, reichlich Arbeit. Es gibt
für mich hier in Spanien immer mal Momente, wo ich Heimweh bekomme - meine
Sprache, Freunde, Berlin, Weihnachten? aber ich muss dann nur Mal Anne Will oder
Plasberg anschalten, Frau Schmidts oder Herrn Lauterbachs Gequatsche anhören,
dann weiß ich, dass ich im deutschen Gesundheitswesen unter derzeitigen
Bedingungen nicht mehr arbeiten werde." (Deutsche Ärztin für Innere Medizin seit
ca. 10 Jahren in Spanien tätig).
- Berliner Patientenbeauftragte legt Tätigkeitsbericht vor (Montag, 25. August
2008): "Die Patienten, die sich im Erhebungszeitraum an das Berliner Büro
wendeten, beklagten sich außerdem über den spürbaren Kostendruck und die
Verdichtung der Arbeit in Krankenhäusern. Das ärztliche Personal und die
Pflegekräfte hätten keine Zeit mehr, weil überall Personal abgebaut worden sei.
Das führe zu übermäßiger Belastung und Fehlern."
- "Die Qualität im Gesundheitswesen stirbt zentimeterweise.? (Günther Jonitz,
ZDF, 1994).
Sehr geehrter Herr Thelen, wenn Sie ein funktionierendes Gesundheitssystem
kaputt kriegen wollen, so kann man es nicht einfach abschaffen. Es muss
systematisch, lang anhaltend unter Druck gesetzt und diffamiert werden.
Irgendwann löst es sich von alleine auf. In diesem Zustand sind wir jetzt. Nach
der Zusammenführung der gesetzlichen Krankenversicherung im Gesundheitsfonds und
der Organisation des Leistungsgeschehens des Gemeinsamen Bundesausschusses sind
die entscheidenden Weichen dafür gestellt, ein neues Gesundheitssystem auf den
Weg zu bringen, das sich an primär-ärztlichen und staatlichen
Gesundheitssystemen eng orientiert. Dies ist aus ordnungspolitischer Sicht
durchaus legitim, da es im Entscheidungsbereich einer Regierung liegt, das
Gesundheitswesen umzukrempeln.
Leider muss man feststellen, dass die Systeme, die unserer Regierung als
Vorbilder dienen (Skandinavien, Holland, Großbritannien) zwar bei deutschen
Ärztinnen und Ärzten sehr beliebt sind, weil man dort wertschätzend und
wohlwollend mit Ärztinnen und Ärzten umgeht, Patienten jedoch Wartelisten, harte
Rationierung und ein konkretes Festlegen von Prioritäten tagtäglich erleben.
Wenn man zu laut und zu oft "der Wolf kommt" gerufen hat, braucht es schon eine
gewisse Aufmerksamkeit, um Fehlalarme von begründeten zu unterscheiden. Ich
würde Ihnen nahe legen, die Alarmrufe der Ärzteschaft nicht auf die leichte
Schulter zu nehmen.
Mit freundlichen Grüßen
Dr. med. Günther Jonitz
Präsident der Ärztekammer Berlin